Theodor W. Adorno
Minima Moralia
Reflexionen aus dem beschädigten Leben
Für Max
als Dank und Versprechen
Zueignung
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf
einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren
Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und
am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den
Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums
geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne
eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren
will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die
individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom
Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre
Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem
behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln
lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln
etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt,
daß es keines mehr gibt.
Aber das Verhältnis von Leben und Produktion, das jenes real herabsetzt zur ephemeren
Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht. Noch
ist die Ahnung des aberwitzigen quid pro quo aus dem Leben nicht gänzlich ausgemerzt. Das
reduzierte und degradierte Wesen sträubt sich zäh gegen seine Verzauberung in Fassade. Die
Änderung der Produktionsverhältnisse selber hängt weithin ab von dem, was sich in der
»Konsumsphäre«, der bloßen Reflexionsform der Produktion und dem Zerrbild wahren
Lebens, zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtsein der Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes
zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine
menschenwürdigere herbeiführen. Wird einmal der Schein des Lebens ganz getilgt sein, den
die Konsumsphäre selbst mit so schlechten Gründen verteidigt, so wird das Unwesen der
absoluten Produktion triumphieren.
Trotzdem bleibt so viel Falsches bei Betrachtungen, die vom Subjekt ausgehen, wie das
Leben Schein ward. Denn weil in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Bewegung
deren überwältigende Objektivität einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht, ohne daß
ein neues schon aus ihr entsprungen wäre, stützt die individuelle Erfahrung notwendig sich
auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich.
Es meint seiner Autonomie noch sicher zu sein, aber die Nichtigkeit, die das
Konzentrationslager den Subjekten demonstrierte, ereilt bereits die Form von Subjektivität
selber. Der subjektiven Betrachtung, sei sie auch kritisch gegen sich geschärft, haftet ein
Sentimentales und Anachronistisches an: etwas von der Klage über den Weltlauf, die nicht
um seiner Güte willen zu verwerfen wäre, sondern weil das klagende Subjekt sich in seinem
Sosein zu verhärten droht und damit wiederum das Gesetz des Weltlaufs zu erfüllen. Die
Treue zum eigenen Stand von Bewußtsein und Erfahrung ist allemal in Versuchung, zur
Treulosigkeit zu mißraten, indem sie die Einsicht verleugnet, welche übers Individuum
hinausgreift und dessen Substanz selber beim Namen ruft.
So hat Hegel, an dessen Methode die der Minima Moralia sich schulte, gegen das bloße
Fürsichsein der Subjektivität auf all ihren Stufen argumentiert. Die dialektische Theorie,
abhold jeglichem Vereinzelten, kann denn auch Aphorismen als solche nicht gelten lassen. Im
freundlichsten Falle dürften sie, nach dem Sprachgebrauch der Vorrede der Phänomenologie
des Geistes, toleriert werden als »Konversation«. Deren Zeit aber ist um. Gleichwohl vergißt
das Buch nicht sowohl den Totalitätsanspruch des Systems, das nicht dulden möchte, daß man
aus ihm herausspringt, als daß es dagegen aufbegehrt. Hegel hält sich dem Subjekt gegenüber
nicht an die Forderung, die er sonst leidenschaftlich vorträgt: die, in der Sache zu sein und
nicht »immer darüber hinaus«, anstatt »in den immanenten Inhalt der Sache einzugehen«.
Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß »das
Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten« sei. Sie insistieren in Opposition zu
Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedankens auf der Negativität: »Das
Leben des Geistes gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich
selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht,
wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg
zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen
ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«
Die erledigende Gebärde, mit welcher Hegel im Widerspruch zur eigenen Einsicht stets
wieder das Individuelle traktiert, rührt paradox genug her von seiner notwendigen
Befangenheit in liberalistischem Denken. Die Vorstellung einer durch ihre Antagonismen
hindurch harmonischen Totalität nötigt ihn dazu, der Individuation, mag immer er sie als
treibendes Moment des Prozesses bestimmen, in der Konstruktion des Ganzen einzig
minderen Rang zuzuerkennen. Daß in der Vorgeschichte die objektive Tendenz über den
Köpfen der Menschen, ja vermöge der Vernichtung des Individuellen sich durchsetzt, ohne
daß bis heute die im Begriff konstruierte Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem
geschichtlich vollbracht wäre, verzerrt sich bei ihm: mit überlegener Kälte optiert er nochmals
für die Liquidation des Besonderen. Nirgends wird bei ihm der Primat des Ganzen bezweifelt.
Je fragwürdiger der Übergang von der reflektierenden Vereinzelung zur verherrlichten
Totalität wie in der Geschichte so auch in der Hegelschen Logik bleibt, desto eifriger hängt
Philosophie, als Rechtfertigung des Bestehenden, sich an den Triumphwagen der objektiven
Tendenz. Die Entfaltung eben des gesellschaftlichen Individuationsprinzips zum Sieg der
Fatalität bietet ihr dazu Anlaß genug. Indem Hegel die bürgerliche Gesellschaft sowohl wie
deren Grundkategorie, das Individuum, hypostasiert, hat er die Dialektik zwischen beiden
nicht wahrhaft ausgetragen. Wohl gewahrt er, mit der klassischen Ökonomik, daß die Totalität
selbst aus dem Zusammenhang der antagonistischen Interessen ihrer Mitglieder sich
produziert und reproduziert. Aber das Individuum als solches gilt ihm weithin, naiv, für die
irreduzible Gegebenheit, die er in der Erkenntnistheorie gerade zersetzt. In der
individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs
Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz
des Individuums.
Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung
unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die
großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet ward,
vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind. In den hundertundfünfzig Jahren, die seit
Hegels Konzeption vergingen, ist von der Gewalt des Protests manches wieder ans
Individuum übergegangen. Verglichen mit der altväterischen Kargheit, die dessen
Behandlung bei Hegel charakterisiert, hat es an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel
gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt und
ausgehöhlt wurde. Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich
und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt
war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte. Angesichts der
totalitären Einigkeit, welche die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit,
mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des
Individuellen sich zusammengezogen haben. In ihr verweilt die kritische Theorie nicht nur
mit schlechtem Gewissen.
All das soll das Anfechtbare des Versuchs nicht verleugnen. Ich habe das Buch großenteils
noch während des Krieges geschrieben, unter Bedingungen der Kontemplation. Die Gewalt,
die mich vertrieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis. Ich gestand mir noch
nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts des Unsäglichen, das
kollektiv geschah, von Individuellem überhaupt redet.
In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des
Intellektuellen in der Emigration. Daran schließen sich Erwägungen weiteren
gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs; sie betreffen Psychologie, Ästhetik,
Wissenschaft in ihrem Verhältnis zum Subjekt. Die abschließenden Aphorismen jeden Teils
führen auch thematisch auf die Philosophie, ohne je als abgeschlossen und definitiv sich zu
behaupten: alle wollen Einsatzstellen markieren oder Modelle abgeben für kommende
Anstrengung des Begriffs.
Den unmittelbaren Anlaß zur Niederschrift bot der fünfzigste Geburtstag Max Horkheimers
am 14. Februar 1945. Die Ausführung fiel in eine Phase, in der wir, äußeren Umständen
Rechnung tragend, die gemeinsame Arbeit unterbrechen mußten. Dank und Treue will das
Buch bekunden, indem es die Unterbrechung nicht anerkennt. Es ist Zeugnis eines dialogue
intérieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht Horkheimer ebenso zugehörte wie dem, der
die Zeit zur Formulierung fand.
Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente der gemeinsamen
Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen, bedingt es, daß die Stücke nicht
durchaus vor der Philosophie bestehen, von der sie doch selber ein Stück sind. Das will das
Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang
mit ausdrücken. Zugleich möchte solche Askese etwas von dem Unrecht wieder gutmachen,
daß einer allein an dem weiterarbeitete, was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und
wovon wir nicht ablassen.
Erster Teil
1944
Das Leben lebt nicht
Ferdinand Kürnberger
1
Für Marcel Proust. - Der Sohn wohlhabender Eltern, der, gleichgültig ob aus Talent oder
Schwäche, einen sogenannten intellektuellen Beruf, als Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat
es unter denen, die den degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer. Nicht
bloß, daß ihm die Unabhängigkeit geneidet wird, daß man dem Ernst seiner Absicht mißtraut
und in ihm einen heimlichen Abgesandten der etablierten Mächte vermutet. Solches
Mißtrauen zeugt zwar von Ressentiment, würde aber meist seine Bestätigung finden. Jedoch
die eigentlichen Widerstände liegen anderswo. Die Beschäftigung mit geistigen Dingen ist
mittlerweile selber »praktisch«, zu einem Geschäft mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen
und numerus clausus geworden. Der materiell Unabhängige, der sie aus Widerwillen gegen
die Schmach des Geldverdienens wählt, wird nicht geneigt sein, das anzuerkennen. Dafür
wird er bestraft. Er ist kein »professional«, rangiert in der Hierarchie der Konkurrenten als
Dilettant, gleichgültig wieviel er sachlich versteht, und muß, wenn er Karriere machen will,
den stursten Fachmann an entschlossener Borniertheit womöglich noch übertrumpfen. Die
Suspension der Arbeitsteilung, zu der es ihn treibt, und die in einigen Grenzen seine
ökonomische Lage zu verwirklichen ihn befähigt, gilt als besonders anrüchig: sie verrät die
Abneigung, den von der Gesellschaft anbefohlenen Betrieb zu sanktionieren, und die
auftrumpfende Kompetenz läßt solche Idiosynkrasien nicht zu. Die Departementalisierung des
Geistes ist ein Mittel, diesen dort abzuschaffen, wo er nicht ex officio, im Auftrag betrieben
wird. Es tut seine Dienste um so zuverlässiger, als stets derjenige, der die Arbeitsteilung
kündigt - wäre es auch nur, indem seine Arbeit ihm Lust bereitet -, nach deren eigenem Maß
Blößen sich gibt, die von den Momenten seiner Überlegenheit untrennbar sind. So ist für die
Ordnung gesorgt: die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben können, und die
sonst leben könnten, werden draußen gehalten, weil sie nicht mitmachen wollen. Es ist, als
rächte sich die Klasse, von der die unabhängigen Intellektuellen desertiert sind, indem
zwangshaft ihre Forderungen dort sich durchsetzen, wo der Deserteur Zuflucht sucht.
2
Rasenbank. - Das Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln.
Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie ihre Schrecken verloren. Einmal rebellierten
wir gegen ihre Insistenz auf dem Realitätsprinzip, die Nüchternheit, die stets bereit war, in
Wut gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber finden wir uns einer angeblich
jungen Generation gegenüber, die in jeder ihrer Regungen unerträglich viel erwachsener ist,
als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und
daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritär und unerschütterlich. Vielleicht hat man zu allen
Zeiten die Generation der Eltern als harmlos und entmächtigt erfahren, wenn ihre physische
Kraft nachließ, während die eigene selber schon von der Jugend bedroht schien: in der
antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhältnis eines von Konkurrenz, hinter
der die nackte Gewalt steht. Heute aber beginnt es auf einen Zustand zu regredieren, der zwar
keinen Ödipuskomplex kennt, aber den Vatermord. Es gehört zu den symbolischen Untaten
der Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein spätes und wissendes
Einverständnis mit den Eltern sich her, das von Verurteilten untereinander, gestört nur von der
Angst, wir möchten, selber ohnmächtig, einmal nicht fähig sein, so gut für sie zu sorgen, wie
sie für uns sorgten, als sie etwas besaßen. Die Gewalt, die ihnen angetan wird, macht die
Gewalt vergessen, die sie übten. Noch ihre Rationalisierungen, die ehemals verhaßten Lügen,
mit denen sie ihr partikulares Interesse als allgemeines zu rechtfertigen suchten, zeigen die
Ahnung der Wahrheit an, den Drang zur Versöhnung des Konflikts, den die positive
Nachkommenschaft fröhlich verleugnet. Noch der verblasene, inkonsequente und sich selbst
mißtrauende Geist der Älteren ist eher ansprechbar als die gewitzigte Stupidität von Junior.
Noch die neurotischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen der alten Erwachsenen
repräsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene, verglichen mit der pathischen
Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus. Mit Schrecken muß man einsehen, daß
man oft früher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim
das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war. Unpolitische
Ausbruchsversuche aus der bürgerlichen Familie führen in deren Verstrickung meist nur um
so tiefer hinein, und manchmal will es scheinen, als wäre die unselige Keimzelle der
Gesellschaft, die Familie, zugleich auch die hegende Keimzelle des kompromißlosen Willens
zur anderen. Mit der Familie zerging, während das System fortbesteht, nicht nur die
wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar
unterdrückte, aber auch stärkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die
Gegenkräfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohne Klasse:
im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte.
3
Fisch im Wasser. - Seit der umfassende Verteilungsapparat der hochkonzentrierten Industrie
die Sphäre der Zirkulation ablöst, beginnt diese eine wunderliche Post-Existenz. Während den
Vermittlerberufen die ökonomische Basis entschwindet, wird das Privatleben Ungezählter zu
dem von Agenten und Vermittlern, ja der Bereich des Privaten insgesamt wird verschlungen
von einer rätselhaften Geschäftigkeit, die alle Züge der kommerziellen trägt ohne daß es
eigentlich dabei etwas zu handeln gibt. Die Verängstigten, vom Arbeitslosen bis zum
Prominenten, der sich im nächsten Augenblick den Zorn jener, deren Investition er darstellt,
zuziehen kann, glauben nur durch Einfühlung, Beflissenheit, zur Verfügung Stehen, durch
Schliche und Tücke der als allgegenwärtig vorgestellten Exekutive sich zu empfehlen, durch
Händlerqualitäten, und bald gibt es keine Beziehung mehr, die es nicht auf Beziehungen
abgesehen hätte, keine Regung, die nicht einer Vorzensur unterstünde, ob man auch nicht
vom Genehmen abweicht. Der Begriff der Beziehungen, eine Kategorie von Vermittlung und
Zirkulation, ist nie in der eigentlichen Zirkulationssphäre am besten gediehen, auf dem Markt,
sondern in geschlossenen, monopolartigen Hierarchien. Nun die ganze Gesellschaft
hierarchisch wird, saugen die trüben Beziehungen auch überall dort sich fest, wo es noch den
Schein von Freiheit gab. Die Irrationalität des Systems kommt kaum weniger als im
ökonomischen Schicksal des Einzelnen in dessen parasitärer Psychologie zum Ausdruck.
Früher, als es noch etwas wie die verrufen bürgerliche Trennung von Beruf und Privatleben
gab, der man fast schon nachtrauern möchte, wurde als unmanierlicher Eindringling mit
Mißtrauen gemustert, wer in der Privatsphäre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als
arrogant, fremd und nicht zugehörig, der auf Privates sich einläßt, ohne daß ihm eine
Zweckrichtung anzumerken wäre. Beinahe ist verdächtig, wer nichts »will«: man traut ihm
nicht zu, daß er, ohne durch Gegenforderungen sich zu legitimieren, im Schnappen nach den
Bissen einem behilflich sein könnte. Ungezählte machen aus einem Zustand, welcher aus der
Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf. Das sind die netten Leute, die Beliebten, die mit
allen gut Freund sind, die Gerechten, die human jede Gemeinheit entschuldigen und
unbestechlich jede nicht genormte Regung als sentimental verfemen. Sie sind unentbehrlich
durch Kenntnis aller Kanäle und Abzugslöcher der Macht, erraten ihre geheimsten
Urteilssprüche und leben von deren behender Kommunikation. Sie finden sich in allen
politischen Lagern, auch dort, wo die Ablehnung des Systems für selbstverständlich gilt und
damit einen laxen und abgefeimten Konformismus eigener Art ausgebildet hat. Oft bestechen
sie durch eine gewisse Gutartigkeit, durch mitfühlenden Anteil am Leben der andern:
Selbstlosigkeit auf Spekulation. Sie sind klug, witzig, sensibel und reaktionsfähig: sie haben
den alten Händlergeist mit den Errungenschaften der je vorletzten Psychologie aufpoliert. Zu
allem sind sie fähig, selbst zur Liebe, doch stets treulos. Sie betrügen nicht aus Trieb, sondern
aus Prinzip: noch sich selber werten sie als Profit, den sie keinem anderen gönnen. An den
Geist bindet sie Wahlverwandtschaft und Haß: sie sind eine Versuchung für Nachdenkliche,
aber auch deren schlimmste Feinde. Denn sie sind es, die noch die letzten Schlupfwinkel des
Widerstands, die Stunden, welche von den Anforderungen der Maschinerie freibleiben, subtil
ergreifen und verschandeln. Ihr verspäteter Individualismus vergiftet, was vom Individuum
etwa noch übrig ist.
4
Letzte Klarheit. - Im Zeitungsnachruf für einen Geschäftsmann stand einmal: »Die Weite
seines Gewissens wetteiferte mit der Güte seines Herzens.« Die Entgleisung, die den
trauernden Hinterbliebenen in der für solche Zwecke aufgesparten, gehobenen Sprache
widerfuhr, das unfreiwillige Zugeständnis, der gütige Verblichene sei gewissenlos gewesen,
expediert den Leichenzug auf dem kürzesten Weg ins Land der Wahrheit. Wenn von einem
Menschen vorgeschrittenen Alters gerühmt wird, er sei besonders abgeklärt, so ist
anzunehmen, daß sein Leben eine Folge von Schandtaten darstellt. Aufregung hat er sich
abgewöhnt. Das weite Gewissen installiert sich als Weitherzigkeit, die alles verzeiht, weil sie
es gar zu gründlich versteht. Zwischen der eigenen Schuld und der der anderen tritt ein quid
pro quo ein, das zugunsten dessen aufgelöst wird, der das bessere Teil davontrug. Nach einem
so langen Leben weiß man schon gar nicht mehr zu unterscheiden, wer wem was angetan hat.
In der abstrakten Vorstellung des universalen Unrechts geht jede konkrete Verantwortung
unter. Der Schuft wendet sie so, als ob es gerade ihm widerfahren wäre: wenn Sie wüßten,
junger Mann, wie das Leben ist. Die aber schon mitten in jenem Leben durch besondere Güte
sich auszeichnen, sind meist die, welche einen Vorschußwechsel auf solche Abgeklärtheit
ziehen. Wer nicht böse ist, lebt nicht abgeklärt, sondern in einer besonderen, schamhaften
Weise verhärtet und unduldsam. Aus Mangel an geeigneten Objekten weiß er seiner Liebe
kaum anders Ausdruck zu verleihen als im Haß gegen die ungeeigneten, durch den er freilich
wiederum dem Verhaßten sich angleicht. Der Bürger aber ist tolerant. Seine Liebe zu den
Leuten, wie sie sind, entspringt dem Haß gegen den richtigen Menschen.
5
Herr Doktor, das ist schön von Euch. - Es gibt nichts Harmloses mehr. Die kleinen Freuden,
die Äußerungen des Lebens, die von der Verantwortung des Gedankens ausgenommen
scheinen, haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind
Machens, sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres äußersten Gegensatzes. Noch der
Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des
Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach
des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem
Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität
die Möglichkeit des Besseren festhält. Mißtrauen ist geraten gegenüber allem Unbefangenen,
Legeren, gegenüber allem sich Gehenlassen, das Nachgiebigkeit gegen die Übermacht des
Existierenden einschließt. Der böse Hintersinn des Behagens, der früher einmal auf das Prosit
der Gemütlichkeit beschränkt war, hat längst freundlichere Regungen ergriffen. Das
Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit
kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord
hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine
Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis
zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen. Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei
aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeit selber ist Teilhabe
am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander
reden kann, und das lose, gesellige Wort trägt bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem
durch die Konzessionen an den Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird.
Das böse Prinzip, das in der Leutseligkeit immer schon gesteckt hat, entfaltet sich im
egalitären Geist zu seiner ganzen Bestialität. Herablassung und sich nicht besser Dünken sind
das Gleiche. Durch die Anpassung an die Schwäche der Unterdrückten bestätigt man in
solcher Schwäche die Voraussetzung der Herrschaft und entwickelt selber das Maß an
Grobheit, Dumpfheit und Gewalttätigkeit, dessen man zur Ausübung der Herrschaft bedarf.
Wenn dabei, in der jüngsten Phase, der Gestus der Herablassung entfällt und Angleichung
allein sichtbar wird, so setzt gerade in solcher vollkommenen Abblendung der Macht das
verleugnete Klassenverhältnis um so unversöhnlicher sich durch. Für den Intellektuellen ist
unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren
vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske
fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden
der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.
6
Antithese. - Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die
andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein privates Interesse.
Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu
machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das
richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des
Bürgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor
diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen
Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus,
den einzig der Betrieb abwirft. Darum trägt gerade jede Regung des sich Entziehens Züge des
Negierten. Die Kälte, die sie entwickeln muß, ist von der bürgerlichen nicht zu unterscheiden.
Auch wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende
Allgemeine. Die Beobachtung Prousts, daß die Photographien der Großväter eines Herzogs
und eines Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen, daß keiner mehr an die
soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt: objektiv
verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glück, ja die
moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen den Verfall der
Bildung fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimms oder Bachofens, der
Kulturindustrie in Wendungen ähnlich, von denen wir nichts ahnen. Überdies können auch
wir längst nicht mehr Latein und Griechisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den
Übergang der Zivilisation in den Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu
schreiben oder einen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit muß gelesen worden
sein. Es graut uns vor der Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv
verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und
Berechnungen, die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen
der guten Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflösung des Liberalismus ist das eigentlich
bürgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht überwunden, sondern aus der Objektivität des
gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden und drängenden Atome,
gleichsam in die Anthropologie übergegangen. Die Unterwerfung des Lebens unter den
Produktionsprozeß zwingt erniedrigend einem jeglichen etwas von der Isolierung und
Einsamkeit auf, die wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist
ein so altes Bestandstück der bürgerlichen Ideologie, daß jeder Einzelne in seinem
partikularen Interesse sich besser dünkt als alle anderen, wie daß er die anderen als
Gemeinschaft aller Kunden für höher schätzt als sich selber. Seitdem die alte Bürgerklasse
abgedankt hat, führt beides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde
der Bürger sind und die letzten Bürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber
der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte;
indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private
Existenz, die sich sehnt, der menschenwürdigen ähnlich zu sehen, verrät diese zugleich,
indem die Ähnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung entzogen wird, die doch mehr als je
zuvor der unabhängigen Besinnung bedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das
einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz
sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu
benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber
gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.
7
They, the people. - Der Umstand, daß Intellektuelle meist mit Intellektuellen zu tun haben,
sollte sie nicht dazu verführen, ihresgleichen für noch gemeiner zu halten als den Rest der
Menschheit. Denn sie erfahren sich gegenseitig durchweg in der beschämendsten und
unwürdigsten Situation von allen, der von konkurrierenden Bittstellern, und kehren sich damit
fast zwangshaft untereinander die abscheulichsten Seiten zu. Die andern Menschen,
insbesondere die einfachen, deren Vorzüge hervorzuheben der Intellektuelle so geneigt ist,
begegnen ihm meist in der Rolle dessen, der einem etwas verkaufen will, ohne daß er darum
fürchtet, der Kunde könne ihm je ins Gehege kommen. Der Automechaniker, das Mädchen im
Likörladen hat es leicht, von Unverschämtheit frei zu bleiben: zur Freundlichkeit wird es
ohnehin von oben angehalten. Wenn umgekehrt Analphabeten zu Intellektuellen kommen, um
sich von ihnen Briefe aufsetzen zu lassen, so mögen auch jene leidlich gute Erfahrungen
machen. Sobald aber die einfachen Leute um ihren Anteil am Sozialprodukt sich raufen
müssen, übertreffen sie an Neid und Gehässigkeit alles, was unter Literaten oder
Kapellmeistern beobachtet werden kann. Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft
auf die des prächtigen Systems heraus, das sie dazu macht. Berechtigte Schuldgefühle derer,
die von der physischen Arbeit ausgenommen sind, sollten nicht zur Ausrede werden für die
»Idiotie des Landlebens«. Die Intellektuellen, die als einzige über die Intellektuellen
schreiben und ihnen ihren schlechten Namen in dem der Echtheit machen, verstärken die
Lüge. Ein großer Teil des herrschenden Anti-Intellektualismus und Irrationalismus, bis hinauf
zu Huxley, wird in Gang gesetzt, indem die Schreibenden den Konkurrenzmechanismus
anklagen, ohne ihn zu durchschauen, und ihm so verfallen. In ihrer eigensten Branche haben
sie das Bewußtsein des tat twam asi sich versperrt. Deshalb laufen sie dann in die indischen
Tempel.
8
Wenn dich die bösen Buben locken. - Es gibt einen amor intellectualis zum Küchenpersonal,
die Versuchung für theoretisch oder künstlerisch Arbeitende, den geistigen Anspruch an sich
selbst zu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen
Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat. Da keine Kategorie,
ja selbst die Bildung nicht mehr dem Intellektuellen vorgegeben ist und tausend
Anforderungen der Betriebsamkeit die Konzentration gefährden, wird die Anstrengung, etwas
zu produzieren, was einigermaßen stichhält, so groß, daß kaum einer ihrer mehr fähig bleibt.
Weiter setzt der Druck der Konformität, der auf jedem Produzierenden lastet, dessen
Forderung an sich selbst herab. Das Zentrum der geistigen Selbstdisziplin als solcher ist in
Zersetzung begriffen. Die Tabus, die den geistigen Rang eines Menschen ausmachen, oftmals
sedimentierte Erfahrungen und unartikulierte Erkenntnisse, richten sich stets gegen eigene
Regungen, die er verdammen lernte, die aber so stark sind, daß nur eine fraglose und
unbefragte Instanz ihnen Einhalt gebieten kann. Was fürs Triebleben gilt, gilt fürs geistige
nicht minder: der Maler und Komponist, der diese und jene Farbenzusammenstellung oder
Akkordverbindung als kitschig sich untersagt, der Schriftsteller, dem sprachliche
Konfigurationen als banal oder pedantisch auf die Nerven gehen, reagiert so heftig gegen sie,
weil in ihm selber Schichten sind, die es dorthin lockt. Die Absage ans herrschende Unwesen
der Kultur setzt voraus, daß man an diesem selber genug teilhat, um es gleichsam in den
eigenen Fingern zucken zu fühlen, daß man aber zugleich aus dieser Teilhabe Kräfte zog, sie
zu kündigen. Diese Kräfte, die als solche des individuellen Widerstands in Erscheinung treten,
sind darum doch keineswegs selber bloß individueller Art. Das intellektuelle Gewissen, in
dem sie sich zusammenfassen, hat ein gesellschaftliches Moment so gut wie das moralische
Überich. Es bildet sich an einer Vorstellung von der richtigen Gesellschaft und deren Bürgern.
Läßt einmal diese Vorstellung nach - und wer könnte noch blind vertrauend ihr sich
überlassen -, so verliert der intellektuelle Drang nach unten seine Hemmung, und aller Unrat,
den die barbarische Kultur im Individuum zurückgelassen hat, Halbbildung, sich
Gehenlassen, plumpe Vertraulichkeit, Ungeschliffenheit, kommt zum Vorschein. Meist
rationalisiert es sich auch noch als Humanität, als den Willen, anderen Menschen sich
verständlich zu machen, als welterfahrene Verantwortlichkeit. Aber das Opfer der
intellektuellen Selbstdisziplin fällt dem, der es auf sich nimmt, viel zu leicht, als daß man ihm
glauben dürfte, daß es eines ist. Drastisch wird die Beobachtung an Intellektuellen, deren
materielle Lage sich geändert hat: sobald sie sich nur einigermaßen einreden können, daß sie
mit Schreiben und nichts anderem Geld verdienen müßten, lassen sie bis auf die Nuance
genau den gleichen Schund in die Welt gehen, den sie als Wohlbestallte einmal aufs heftigste
verfemten. Ganz wie Emigranten, die einmal reich waren, in der Fremde oft nach Herzenslust
so geizig sind, wie sie es zu Hause schon immer gern gewesen wären, so marschieren die
Verarmten im Geiste begeistert in die Hölle, die ihr Himmelreich ist.
9
Vor allem eins, mein Kind. - Die Unmoral der Lüge besteht nicht in der Verletzung der
sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am letzten eine Gesellschaft das Recht,
die ihre Zwangsmitglieder dazu verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann desto
zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der
partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem
haftet der Lüge etwas Widerwärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar von der alten
Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehler
liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt, schämt sich, denn an jeder Lüge muß er
das Unwürdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will,
und ihm dabei auch noch »Üb immer Treu' und Redlichkeit« vorsingt. Solche Scham entzieht
den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die
Lüge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient
der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge
längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle
wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nichts
an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt.
Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken
der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in
deren Schutz er gedeihen kann.
10
Getrennt-vereint. - Die Ehe, deren schmähliche Parodie fortlebt in einer Zeit, die dem
Menschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat, dient heute meist dem Trick der
Selbsterhaltung: daß einer der beiden Verschworenen jeweils die Verantwortung für alles
Üble, das er begeht, nach außen dem andern zuschiebt, während sie in Wahrheit trüb und
sumpfig zusammen existieren. Eine anständige Ehe wäre erst eine, in der beide ihr eigenes
unabhängiges Leben für sich haben, ohne die Fusion, die von der ökonomisch erzwungenen
Interessengemeinschaft herrührt, dafür aber aus Freiheit die wechselseitige Verantwortung
füreinander auf sich nähmen. Die Ehe als Interessengemeinschaft bedeutet unweigerlich die
Erniedrigung der Interessenten, und es ist das Perfide der Welteinrichtung, daß keiner, wüßte
er auch darum, solcher Erniedrigung sich entziehen kann. Manchmal könnte man daher auf
den Gedanken verfallen, daß nur solchen, die der Verfolgung von Interessen enthoben sind,
also Reichen, die Möglichkeit einer Ehe ohne Schande vorbehalten sei. Aber diese
Möglichkeit ist ganz formal, denn jene Privilegierten sind es gerade, denen die Verfolgung
des Interesses zur zweiten Natur wurde - sonst behaupteten sie nicht das Privileg.
11
Tisch und Bett. - Sobald Menschen, auch gutartige, freundliche und gebildete, sich scheiden
lassen, pflegt eine Staubwolke aufzusteigen, die alles überzieht und verfärbt, womit sie in
Berührung kommt. Es ist, als hätte die Sphäre der Intimität, das unwachsame Vertrauen des
gemeinsamen Lebens sich in einen bösen Giftstoff verwandelt, wenn die Beziehungen
zerbrochen sind, in denen sie beruhte. Das Intime zwischen Menschen ist Nachsicht,
Duldung, Zuflucht für Eigenheiten. Wird es hervorgezerrt, so kommt von selber das Moment
der Schwäche daran zum Vorschein, und bei der Scheidung ist eine solche Wendung nach
außen unvermeidlich. Sie bemächtigt sich des Inventars der Vertrautheit. Dinge, die einmal
Zeichen liebender Sorge, Bilder von Versöhnung gewesen sind, machen sich plötzlich als
Werte selbständig und zeigen ihre böse, kalte und verderbliche Seite. Professoren brechen
nach der Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein, um Gegenstände aus dem Schreibtisch zu
entwenden, und wohldotierte Damen denunzieren ihre Männer wegen Steuerhinterziehung.
Gewährt die Ehe eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen
zu bilden, so rächt das Allgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es des scheinbar
Ausgenommenen sich bemächtigt, den entfremdeten Ordnungen von Recht und Eigentum es
unterstellt und die verhöhnt, die davor sich sicher wähnten. Gerade das Behütete wird zum
grausamen Requisit des Preisgegebenseins. Je »großzügiger« die Vermählten ursprünglich
zueinander sich verhielten, je weniger sie an Besitz und Verpflichtung dachten, desto
abscheulicher wird die Entwürdigung. Denn es ist eben der Bereich des rechtlich
Undefinierten, in dem Streit, Diffamierung, der endlose Konflikt der Interessen gedeihen. All
das Dunkle, auf dessen Grund die Institution der Ehe sich erhebt, die barbarische Verfügung
des Mannes über Eigentum und Arbeit der Frau, die nicht minder barbarische
Sexualunterdrückung, die den Mann tendenziell dazu nötigt, für die sein Leben lang die
Verantwortung zu übernehmen, mit der zu schlafen ihm einmal Lust bereitete - all das kriecht
aus den Kellern und Fundamenten ins Freie, wenn das Haus demoliert wird. Die einmal das
gute Allgemeine in der beschränkenden Zugehörigkeit zueinander erfuhren, werden nun von
der Gesellschaft gezwungen, sich für Schurken zu halten und zu lernen, daß sie dem
Allgemeinen der unbeschränkten Gemeinheit draußen gleichen. Das Allgemeine erweist sich
bei der Scheidung als das Schandmal des Besonderen, weil das Besondere, die Ehe, das wahre
Allgemeine in dieser Gesellschaft nicht zu verwirklichen vermag.
12
Inter pares. - Im Reich der erotischen Qualitäten scheint eine Umwertung sich zu vollziehen.
Unterm Liberalismus, bis in unsere Tage hinein, pflegten verheiratete Männer aus guter
Gesellschaft, denen ihre behütet erzogene und korrekte Gattin zu wenig zu bieten vermochte,
an Künstlerinnen, Bohémiennen, süßen Mädeln und Kokotten sich schadlos zu halten. Mit der
Rationalisierung der Gesellschaft ist diese Möglichkeit von unreglementiertem Glück
entschwunden. Die Kokotten sind ausgestorben, die süßen Mädeln hat es in angelsächsischen
und anderen Ländern technischer Zivilisation eh nicht gegeben, die Künstlerinnen und die um
die Massenkultur parasitär angesetzte Bohème aber sind von deren Vernunft so vollkommen
durchdrungen, daß, wer zu ihrer Anarchie, der freien Verfügung über den eigenen
Tauschwert, verlangend sich flüchtete, in Gefahr stünde, mit der Verpflichtung aufzuwachen,
sie, wenn nicht als Assistentin engagieren, so wenigstens an einen ihm bekannten
Filmgewaltigen oder Skribenten empfehlen zu müssen. Die einzigen, die etwas wie
unvernünftige Liebe überhaupt noch sich leisten können, sind eben jene Damen, vor denen die
Ehegatten einmal davon und zu Maxim gingen. Während sie ihren eigenen Männern durch
deren Schuld noch so langweilig sind wie ihre Mütter, vermögen sie den andern wenigstens
das zu gewähren, was sonst von allen ihnen vorenthalten wird. Die längst frigide Libertine
repräsentiert das Geschäft, die Korrekte, Wohlerzogene sehnsüchtig und unromantisch die
Sexualität. So kommen am Ende die Damen der Gesellschaft zur Ehre ihrer Unehre in dem
Augenblick, in dem es keine Gesellschaft mehr gibt und keine Dame.
13
Schutz, Hilfe und Rat. - Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist
beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht
geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in
einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den
Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in
der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur
und der sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist
seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die
Kräfte zog. Die Isolierung wird um so schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte
Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die
abgestempelten anderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf die Fremden entfällt, will
nicht ausreichen und treibt sie zur hoffnungslosen zweiten Konkurrenz untereinander inmitten
der allgemeinen. All das hinterläßt Male in jedem Einzelnen. Wer selbst der Schmach der
unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trägt als sein besonderes Mal eben diese
Enthobenheit, eine im Lebensprozeß der Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die
Beziehungen zwischen den Verstoßenen sind mehr noch vergiftet als die zwischen den
Eingesessenen. Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstört. Das Private drängt
ungebührlich, hektisch, vampyrhaft sich vor, eben weil es eigentlich nicht mehr existiert und
krampfhaft sein Leben beweisen will. Das Öffentliche wird zur Sache des unausgesprochenen
Treueids auf der Plattform. Der Blick nimmt das Manische und zugleich Kalte des Greifens,
Verschlingens, Beschlagnehmens an. Nichts hilft als die standhaltende Diagnose seiner selbst
und der anderen, der Versuch, durch Bewußtsein wenn schon nicht dem Unheil zu
entweichen, so ihm doch seine verhängnisvolle Gewalt, die der Blindheit, zu entziehen.
Äußerste Vorsicht ist geraten zumal in der Auswahl des privaten Umgangs, soweit sie einem
gelassen ist. Hüten soll man sich vor allem, Mächtige zu suchen, von denen man »etwas zu
erwarten hat«. Der Blick auf mögliche Vorteile ist der Todfeind der Bildung
menschenwürdiger Beziehungen überhaupt; aus solchen kann Solidarität und
Füreinandereinstehen folgen, aber nie können sie im Gedanken an praktische Zwecke
entspringen. Kaum minder gefährlich sind die Spiegelbilder der Macht, Lakaien, Schmeichler
und Schnorrer, die sich dem, der besser dran ist, in einer archaistischen Weise gefällig
machen, wie sie nur unter den wirtschaftlich extraterritorialen Verhältnissen der Emigration
gedeihen kann. Während sie dem Protektor kleine Vorteile bringen, ziehen sie ihn herab,
sobald er sie annimmt, wozu ihn doch wiederum seine eigene Unbeholfenheit in der Fremde
unablässig verführt. Wenn in Europa der esoterische Gestus oft nur ein Vorwand war fürs
blindeste Eigeninteresse, so scheint der abgetakelte und wenig wasserdichte Begriff der
austérité in der Emigration noch das annehmbarste Rettungsboot. Nur den wenigsten freilich
steht es in gediegener Ausführung zur Verfügung. Den meisten, die es besteigen, droht es den
Hungertod an oder den Wahnsinn.
14
Le bourgeois revenant. - Absurd hat in den faschistischen Regimes der ersten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts die obsolete Wirtschaftsform sich stabilisiert und das Grauen
vervielfacht, dessen sie bedarf, um sich aufrecht zu erhalten, nun ihre Sinnlosigkeit offen
zutage liegt. Davon aber ist auch das Privatleben gezeichnet. Mit der Verfügungsgewalt haben
sich zugleich die stickige Ordnung des Privaten, der Partikularismus der Interessen, die längst
überholte Form der Familie, das Eigentumsrecht und seine Reflexion im Charakter nochmals
festgesetzt. Aber mit schlechtem Gewissen, dem kaum verhohlenen Bewußtsein der
Unwahrheit. Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit,
Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die
bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische
Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es
insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut
eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders
und besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz
verstockt und böse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Gärtchen hegt und
pflegt, als ob es nicht längst zum »lot« geworden wäre, aber den unbekannten Eindringling
ängstlich fernhält, ist bereits die, welche dem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Als
objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang subjektiv vollends unmenschlich.
So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu
eigen. Die Bürger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.
15
Le nouvel avare. - Es gibt zweierlei Arten von Geiz. Eine ist die archaische, die Leidenschaft,
die sich und anderen nichts gönnt, deren physiognomischen Zug Molière verewigt, Freud als
analen Charakter erklärt hat. Sie vollendet sich im miser, dem Bettler, der insgeheim über
Millionen verfügt, gleichsam der puritanischen Maske des unerkannten Kalifen aus dem
Märchen. Er ist dem Sammler, dem Manischen, schließlich dem großen Liebenden verwandt
wie Gobseck der Esther. Man trifft ihn gerade noch als Kuriosität in den Lokalspalten der
Tagesblätter. Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für die andern zu teuer
ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu
geben, als man zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas zurückbekomme.
Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: »ist das auch nötig?«, »muß man
das tun?« anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, für empfangene
Aufmerksamkeiten sich zu »revanchieren«, um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei
denen man auf seine Kosten kommt, keine Lücke entstehen zu lassen. Weil bei ihnen alles
rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu
überführen und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer Unerbittlichkeit.
Wenn es gilt, setzen sie unwiderleglich sich ins Recht und das Recht ins Unrecht, während der
Wahnsinn der schäbigen Geizhälse das Versöhnliche hatte, daß der Tendenz nach das Gold in
der Kassette den Dieb schon herbeizog, ja, daß erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaft
sich stillte wie das erotische Besitzenwollen in der Selbstpreisgabe. Die neuen Geizigen aber
betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung sondern mit Vorsicht. Sie sind versichert.
16
Zur Dialektik des Takts. - Goethe, der deutlich der drohenden Unmöglichkeit aller
menschlichen Beziehungen in der heraufkommenden Industriegesellschaft sich bewußt war,
hat in den Novellen der Wanderjahre versucht, den Takt als die rettende Auskunft zwischen
den entfremdeten Menschen darzustellen. Diese Auskunft schien ihm eins mit der Entsagung,
mit Verzicht auf ungeschmälerte Nähe, Leidenschaft und ungebrochenes Glück. Das Humane
bestand ihm in einer Selbsteinschränkung, die beschwörend den unausweichlichen Gang der
Geschichte zur eigenen Sache machte, die Inhumanität des Fortschritts, die Verkümmerung
des Subjekts. Aber was seitdem geschah, läßt die Goethesche Entsagung selber als Erfüllung
erscheinen. Takt und Humanität - bei ihm das Gleiche - sind mittlerweile eben den Weg
gegangen, vor dem sie nach seinem Glauben bewahren sollten. Hat doch Takt seine genaue
historische Stunde. Es ist die, in welcher das bürgerliche Individuum des absolutistischen
Zwangs ledig ward. Frei und einsam steht es für sich selber ein, während die vom
Absolutismus entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rücksicht, ihres
ökonomischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewalt entäußert, gerade noch gegenwärtig
genug sind, um das Zusammenleben innerhalb bevorzugter Gruppen erträglich zu machen.
Solcher gleichsam paradoxe Einstand von Absolutismus und Liberalität läßt wie im Wilhelm
Meister noch an Beethovens Stellung zu den überlieferten Schemata der Komposition, ja bis
in die Logik hinein, an Kants subjektiver Rekonstruktion der objektiv verpflichtenden Ideen
sich wahrnehmen. Beethovens regelmäßige Reprisen nach den dynamischen Durchführungen,
Kants Deduktion der scholastischen Kategorien aus der Einheit des Bewußtseins sind in
einem eminenten Sinne »taktvoll«. Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und
doch noch gegenwärtige Konvention. Diese ist nun unrettbar verfallen und lebt fort nur noch
in der Parodie der Formen, einer willkürlich ausgedachten oder erinnerten Etikette für
Ignoranten, wie ungebetene Ratgeber in Zeitungen sie predigen, während das Einverständnis,
das jene Konventionen zu ihrer humanen Stunde tragen mochte, an die blinde Konformität der
Autobesitzer und Radiohörer übergegangen ist. Das Absterben des zeremoniellen Moments
scheint zunächst dem Takt zugute zu kommen. Er ist von allem Heteronomen, schlecht
Auswendigen emanzipiert, und taktvolles Verhalten wäre kein anderes als eines, das sich
allein nach der spezifischen Beschaffenheit eines jeglichen menschlichen Verhältnisses
richtet. Solcher emanzipierte Takt jedoch gerät in Schwierigkeiten wie der Nominalismus
allerorten. Takt meinte nicht einfach die Unterordnung unter die zeremoniale Konvention: die
gerade haben alle neueren Humanisten unablässig unter Ironie gestellt. Die Leistung des Takts
war vielmehr so paradox wie sein geschichtlicher Standort. Sie verlangte die eigentlich
unmögliche Versöhnung zwischen dem unbestätigten Anspruch der Konvention und dem
ungebärdigen des Individuums. Anders als an jener Konvention ließ Takt gar nicht sich
messen. Sie repräsentierte, wie sehr auch verdünnt, das Allgemeine, das die Substanz des
individuellen Anspruchs selber ausmacht. Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in
wissenden Abweichungen. Indem er jedoch als emanzipierter dem Individuum als absolutem
gegenübertritt, ohne ein Allgemeines, wovon er differieren könnte, verfehlt er das Individuum
und tut endlich Unrecht ihm an. Die Frage nach dem Befinden, nicht länger von Erziehung
geboten und erwartet, wird zum Ausforschen oder zur Verletzung; das Schweigen über
empfindliche Gegenstände zur leeren Gleichgültigkeit, sobald keine Regel mehr angibt,
worüber zu reden sei und worüber nicht. Die Individuen beginnen denn auch, nicht ohne
Grund, auf Takt feindselig zu reagieren: eine gewisse Art der Höflichkeit etwa läßt sie nicht
sowohl als Menschen angesprochen sich fühlen, als daß sie in ihnen die Ahnung des
unmenschlichen Zustands erweckt, in welchem sie sich befinden, und der Höfliche läuft
Gefahr, für den Unhöflichen zu gelten, weil er von der Höflichkeit wie von einem überholten
Vorrecht noch Gebrauch macht. Schließlich wird der emanzipierte, rein individuelle Takt zur
bloßen Lüge. Was von ihm im Individuum heute eigentlich getroffen wird, ist, was er
angelegentlich verschweigt, die tatsächliche und mehr noch die potentielle Macht, die jeder
verkörpert. Unter der Forderung, dem Individuum als solchem, ohne alle Präambeln, absolut
angemessen gegenüber zu treten, liegt die eifernde Kontrolle darüber, daß jedes Wort
stillschweigend sich selber Rechenschaft davon gibt, was der Angeredete in der sich
verhärtenden Hierarchie, die alle einbegreift, darstellt, und welches seine Chancen sind. Der
Nominalismus des Takts verhilft dem Allgemeinsten, der nackten Verfügungsgewalt, zum
Triumph noch in den intimsten Konstellationen. Die Abschreibung der Konventionen als
überholten, nutzlosen und äußerlichen Zierats bestätigt nur das Alleräußerlichste, ein Leben
unmittelbarer Beherrschung. Daß dennoch der Fortfall selbst dieses Zerrbilds von Takt in der
Kameraderie der Anrempelei, als Hohn auf Freiheit, die Existenz noch unerträglicher macht,
ist bloß ein weiteres Anzeichen dafür, wie unmöglich das Zusammenleben der Menschen
unter den gegenwärtigen Verhältnissen geworden ist.
17
Eigentumsvorbehalt. - Die Signatur des Zeitalters ist es, daß kein Mensch, ohne alle
Ausnahme, sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn, wie er früher in der
Abschätzung der Marktverhältnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann. Im Prinzip
sind alle, noch die Mächtigsten Objekte. Sogar der Beruf des Generals bietet keinen
zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachungen sind in der faschistischen Ära bindend
genug, um die Hauptquartiere vor Fliegerangriffen zu schützen, und Kommandanten, die es
mit der traditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler gehängt und von Chiang Kai-Shek
geköpft. Daraus folgt unmittelbar, daß jeder, der versucht durchzukommen - und das
Weiterleben selbst hat etwas Widersinniges wie die Träume, in denen man den Weltuntergang
mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht -, zugleich so leben
sollte, daß er in jedem Augenblick fähig ist, sein Leben auszulöschen. Das ist als triste
Wahrheit aus Zarathustras überschwenglicher Lehre vom freien Tode hervorgetreten. Freiheit
hat sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in
Schönheit sterben hieß, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des
Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst
Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod. - Das objektive Ende der Humanität ist nur ein
anderer Ausdruck fürs Gleiche. Es besagt, daß der Einzelne als Einzelner, wie er das
Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung
verwirklichen könnte.
18
Asyl für Obdachlose. - Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an.
Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen
wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens
darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen
Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht
haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die
sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der
Sehnsucht nach unabhängiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt, schlagen sie ins
Gesicht. Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier, hat mit
prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mit dem Bett
die Schwelle von Wachen und Traum abgeschafft. Die Übernächtigen sind allezeit verfügbar
und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich. Wer sich in echte, aber
zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will
man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte
Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der
Emigration die lebenskluge Norm. Am ärgsten ergeht es wie überall denen, die nicht zu
wählen haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so in Bungalows, die morgen schon
Laubenhütten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mögen. Das
Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und
Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der
Technik über die Häuser längst entschieden hat. Diese taugen nur noch dazu, wie alte
Konservenbüchsen fortgeworfen zu werden. Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet
von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum
schleichenden Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn er sich mit
Möbelentwürfen und Innendekoration beschäftigt, gerät er in die Nähe des kunstgewerblichen
Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im
engeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werkstätte
und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform
gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die
kubistischen Grundgestalten. Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein
unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen,: solange die Gesellschaftsordnung und
die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch
gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. »Es gehört selbst zu meinem
Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft.
Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu
sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu
seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde
darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr
gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein
Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; daß
man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not
geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber die
Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die
notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem
Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem
Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
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Nicht anklopfen. - Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit
die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie
unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So
wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und
Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so
die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das
Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht
ohne das Bewußtsein davon, was ihm unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein,
von den Dingen der Umwelt widerfährt. Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine
Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende
Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine
Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten? Und welchen Chauffierenden hätten
nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße,
Passanten, Kinder und Radfahrer, zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die
Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende,
stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen. Am Absterben der Erfahrung trägt
Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine
Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen
Überschuß, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der
als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.
20
Struwwelpeter. - Als Hume gegen seine weltfreundlichen Landsleute die
erkenntnistheoretische Kontemplation, die unter Gentlemen seit je anrüchige »reine
Philosophie« zu verteidigen suchte, gebrauchte er das Argument: »Genauigkeit kommt immer
der Schönheit zugute, und richtiges Denken dem zarten Gefühl.« Das war selber
pragmatistisch, und doch enthält es implizit und negativ die ganze Wahrheit über den Geist
der Praxis. Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kämen sie den
Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkümmern, und je mehr
sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen
Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier
Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift; Erbteil alter Privilegien, das den
privilegienlosen Stand verspricht. Die Abschaffung des Privilegs durch die bürgerliche ratio
schafft am Ende auch dies Versprechen ab. Wenn Zeit Geld ist, scheint es moralisch, Zeit zu
sparen, vor allem die eigene, und man entschuldigt solche Sparsamkeit mit der Rücksicht auf
den andern. Man ist geradezu. Jede Hülle, die sich im Verkehr zwischen die Menschen
schiebt, wird als Störung des Funktionierens der Apparatur empfunden, der sie nicht nur
objektiv eingegliedert sind, sondern als die sie mit Stolz sich selber betrachten. Daß sie,
anstatt den Hut zu ziehen, mit dem Hallo der vertrauten Gleichgültigkeit sich begrüßen, daß
sie anstatt von Briefen sich anrede- und unterschriftslose Inter office communications
schicken, sind beliebige Symptome einer Erkrankung des Kontakts. Die Entfremdung erweist
sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen. Denn nur solange sie sich
nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung und Funktion immerzu auf
den Leib rücken, bleibt Raum genug zwischen ihnen für das feine Gefädel, das sie
miteinander verbindet und in dessen Auswendigkeit das Inwendige erst sich kristallisiert.
Reaktionäre wie die Anhänger C. G. Jungs haben davon etwas gemerkt. »Es gehört«, heißt es
i
― urty, Tuesday, 9 May 2006 21:45 (nineteen years ago)
three months pass...
three weeks pass...
four weeks pass...
one year passes...
ten months pass...